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Das "HWS-Schleudertrauma" aus technischer Sicht


Die Verletzungsmechanismen der Halswirbelsäule (HWS) und die Schwellenwerte für Verletzungen sind nicht abschließend erforscht. Es gibt sowohl bei Medizinern als auch bei Technikern noch durchaus unterschiedliche Auffassungen, wenn sich auch in letzter Zeit eine Art Mehrheitsmeinung heraus zu kristallisieren scheint.

Kapitel des Textes
Bewegungsablauf beim Auffahrunfall
Definitionen
Schwellenwerte für die Geschwindigkeitsänderung
Ermittlung der Geschwindigkeitsänderung
Der Stoßfaktor k
Out of position?

Bewegungsablauf beim Auffahrunfall

HWS-Verletzungen bei Auffahrunfällen sind darauf zurückzuführen, dass es bei einem Aufprall gegen ein Fahrzeug zu einer Relativbewegung zwischen Kopf und Körper der Insassen kommt.

Durch den Aufprall wird das Fahrzeug und damit der Sitz plötzlich unter dem Insassen hinweg nach vorne beschleunigt. Sobald der Oberkörper an der Rückenlehne anliegt und an der Bewegung des Sitzes teilhaben kann, beginnt eine Relativbewegung zwischen Kopf und Oberkörper.

Zuerst bewegt sich der Kopf waagerecht nach hinten; dabei kommt es zu einer Parallelverschiebung der Wirbelkörper. Die HWS wird dabei S-förmig verformt. Dann wird der Kopf - relativ zum Körper - weiter nach hinten beschleunigt und die Halswirbelsäule dadurch gebogen. Der Grad der Durchbiegung nach hinten hängt davon ab, wie die Kopfstütze angebracht ist. Schließlich kommt es zu einem Vorschwingen in den Gurt. Dieses ist jedoch energiearm und nicht geeignet, Verletzungen hervorzurufen.

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Definitionen

Für das Verletzungsrisiko bei Auffahrunfällen ist insbesondere das Maß der Beschleunigung entscheidend, der das Fahrzeug und der Insasse bei einem Auffahrunfall ausgesetzt sind. Theoretisch optimal wäre es, wenn man den Verlauf der auf den Insassen und seine Körperteile einwirkenden Beschleunigung kennen würde bzw. errechnen könnte. Wegen der Vielzahl der im einzelnen nicht mehr rekonstruierbaren Faktoren ist dies aber auf sinnvolle Weise nicht möglich. Stattdessen wird die Unfallschwere durch eher summarische Größen beschrieben.

Als besonders brauchbar hat sich hier die Geschwindigkeitsänderung (delta v) erwiesen, die durch den Anstoß in das Fahrzeug eingeleitet wird. Hier kurze Begriffsdefinitionen:

  • Unter Kollisionsgeschwindigkeit oder Aufprallgeschwindigkeit versteht man die Geschwindigkeit, mit der ein Fahrzeug auf ein anderes aufprallt.
  • Die Differenzgeschwindigkeit oder Relativgeschwindigkeit ist der Unterschied zwischen den Geschwindigkeiten beider Fahrzeuge beim Aufprall. Wenn beispielsweise ein Pkw mit 50 km/h auf das Heck eines mit 10 km/h fahrenden Pkw auffährt, beträgt die Differenzgeschwindigkeit 40 km/h und die Kollisionsgeschwindigkeit 50 km/h. Wenn ein Fahrzeug bei dem Zusammenstoß im Stillstand ist, ist die Differenzgeschwindigkeit mit der Kollisionsgeschwindigkeit identisch.
  • Im Gegensatz zu den beiden Erstgenannten kommt die Geschwindigkeitsänderung, delta V, erst nach dem Stoß zum Tragen. Sie ist der Betrag, um den sich die Geschwindigkeit eines Fahrzeugs infolge des Anstoßes ändert. Beispiel: Ein Pkw stößt mit 50 km/h gegen ein stehendes Fahrzeug. Dieses wird dadurch aus dem Stand auf 30 km/h beschleunigt. Die Geschwindigkeitsänderung des zuvor im Stillstand befindlichen Fahrzeugs beträgt 30 km/h.
  • Eine Sonderrolle spielt die EES (energie-äquivalente-Geschwindigkeit, Energy-Equivalent-Speed). Im Gegensatz zu den drei anderen tritt dieser Wert bei einer Kollision nie tatsächlich auf, ist also auch nicht direkt messbar. Vielmehr ist die EES eine theoretische Größe, die dazu dient, das Maß an Deformationsarbeit, das ein Fahrzeug bei einem Zusammenstoß geleistet hat, zu beschreiben. Diese Art der Beschreibung hat sich zum einen eingebürgert, weil Angaben in km/h oder in m/s leichter zu handhaben und anschaulicher sind als Angaben in Nm (Newtonmeter, Einheit von Arbeit bzw. Energie). Vor allem aber entspricht bei einem zentralen Aufprall gegen ein starres, unbewegliches Hindernis (und nur dann!) die Kollisionsgeschwindigkeit annähernd der EES. Man kann somit aus dem Vergleich mit entsprechenden Unfallversuchen direkt Angaben über die EES eines Fahrzeuges machen.

Bei der Ermittlung der Geschwindigkeitsänderung wird wie folgt vorgegangen: Zunächst wird in der Regel die Kollisionsgeschwindigkeit aus dem Schadenbild abgeschätzt oder in günstigen Fällen an Hand des Spurenbildes auf der Fahrbahn berechnet. Dabei wird häufig die EES als Zwischenergebnis und Hilfsgröße verwendet. Aus der Kollisionsgeschwindigkeit wird nach Maßgabe der Fahrzeugmassen und der Elastizität des Anstoßes dann ein Bereich errechnet, in dem die Geschwindigkeitsänderung gelegen hat. Bei gegebener Stoßdauer besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeitsänderung und der auf Fahrzeuginsassen wirkenden Beschleunigung.

Durch Probandenversuche sind Schwellenwerte für delta v bekannt, von denen an es zu Verletzungen der HWS kommen kann. Dann kann geprüft werden, ob die für den konkreten Fall ermittelten Werte oberhalb oder unterhalb der bekannten Schwellen liegen.

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Schwellenwerte für die Geschwindigkeitsänderung

In der Literatur wurden in der Vergangenheit verschiedene Schwellenwerte für die Geschwindigkeitsänderung (delta v) angegeben, von der an eine HWS-Verletzung bei Auffahrunfällen möglich sei. Die Angaben schwankten dabei zwischen 10 und 18 km/h. Häufig wurde ein Grenzwert von 11 oder von 13 km/h genannt. Mittlerweile stimmen die meisten Forscher darin überein, dass im Normalfall eine Geschwindigkeitsänderung von 10 km/h oder leicht darüber als "Harmlosigkeitsgrenze" hinsichtlich des Verletzungsrisikos für die HWS anzusehen ist.

Es gibt aber auch einzelne Untersuchungen mit Probanden, in denen bei ganz geringen Geschwindigkeitsänderungen schon HWS-Verletzungen konstatiert wurden etwa ab einem delta-v von 4 km/h. Das erstaunt, da Geschwindigkeitsänderungen von 4 km/h in der Größenordnung von Belastungen liegen, wie sie im Alltag häufig auftreten können.

Um zur Problematik der Beschwerden bei ganz geringen Geschwindigkeitsänderungen zusätzliche Erkenntnisse zu gewinnen, führte MEYER [1] eine besondere Versuchsreihe durch. Dabei wurden einer Probandengruppe von insgesamt 51 Personen durch optische, akustische und sensorische Tricks Kollisionen nur vorgetäuscht. Es handelte sich gewissermaßen um "Placebo-Kollisionen". Die Geschwindigkeitsänderung betrug 0 km/h. Dennoch gaben anschließend rund 20 % der Probanden an, ein HWS-Schleudertrauma erlitten zu haben. Hier scheinen psychosomatische Effekte eine erhebliche Rolle zu spielen. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Effekte auch bei den Versuchen mit Geschwindigkeitsänderungen zwar über 0 km/h aber deutlich unter 10 km/h eine erhebliche Rolle spielten. Selbst bei Probandenversuchen mit Geschwindigkeitsänderungen über 10 km/h können psychosomatische Effekte natürlich nicht ausgeschlossen werden.

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Ermittlung der Geschwindigkeitsänderung

Für die Berechnung der Geschwindigkeitsänderung oder auch der auf das Fahrzeug wirkenden Beschleunigung ist es notwendige Voraussetzung, die Differenzgeschwindigkeit der Fahrzeuge bzw. die Kollisionsgeschwindigkeit des auffahrenden Pkw so genau wie möglich zu bestimmen.

In den meisten Fällen liegen keinerlei Informationen über Endstellungen der Fahrzeuge am Unfallort, Spuren auf der Fahrbahn o. ä. vor. Einzige Anknüpfungstatsache für die Einschätzung der Geschwindigkeit sind dann die Fahrzeugschäden. Die Einschätzung der Differenzgeschwindigkeit allein anhand der Fahrzeugschäden ist mit großen Unsicherheiten behaftet. Auf gar keinen Fall ist es auf diese Weise möglich, die Geschwindigkeit auf Kommastellen genau einzugrenzen. Ein Sachverständiger der vorgibt, er könne anhand von Fahrzeugschäden eine Aufprallgeschwindigkeit genau angeben, ist keiner.

Zur Eingrenzung der Aufprallgeschwindigkeit können Kollisionsversuche herangezogen werden. Dabei müssen in der Regel Kompromisse gemacht werden. Eigens zur Klärung eines Einzelfalles Kollisionsversuche durchzuführen, verbietet sich in der Regel aus naheliegenden Gründen. Man muss folglich auf vorhandene Versuche zurückgreifen, die selbstverständlich nie 1:1 auf den konkreten Fall übertragbar sind. Es ist vielmehr notwendig, die vorhandenen Unterschiede hinsichtlich Konstellation, Fahrzeugtypen etc. zu berücksichtigen.

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Der Stoßfaktor k

Wenn man die Kollisionsgeschwindigkeit eingegrenzt hat, lässt sich die Geschwindigkeitsänderung des stehenden Fahrzeugs relativ leicht berechnen. Außer den Massen beider Fahrzeuge und der Aufprallgeschwindigkeit ist noch der Stoßfaktor k zu bestimmen bzw. abzuschätzen.

Der "k-Faktor" ist ein Maß der Elastizität eines Stoßes. Er kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen. Ein k-Faktor von 1 entspricht einem vollkommen elastischen Stoß. Ein Beispiel dafür ist der Zusammenstoß zweier Billardkugeln. Ein k-Faktor von 0 bedeutet einen vollkommen plastischen Stoß. Dem kommt z. B. ein Pistolenschuss in einen Sandsack nahe. Prinzipiell gilt: je größer der k-Faktor, desto größer ist bei gleicher Anstoßgeschwindigkeit die Geschwindigkeitsänderung des angestoßenen Körpers.

Auch Pkw-Pkw-Kollisionen sind Stöße mit überwiegend plastischem Charakter. Wenn es zu nennenswerten Blechverformungen gekommen ist, liegt der k-Faktor im Bereich zwischen 0,1 und 0,2. Bei leichteren Stößen spielen die elastischen Bestandteile (Stoßfänger) der Fahrzeuge noch eine größere Rolle. Der k-Faktor kann dann Werte bis etwa 0,4 annehmen. Ferner ist der k-Faktor von der Überdeckung zwischen den Fahrzeugen, der Bauart des heckseitig angestoßenen Fahrzeugs (Kombi, Limousine), der Anstoßhöhe (Stoßfänger gegen Stoßfänger, unter- oder überfahrend) abhängig. Letztlich haben auch spezielle Anbauten, wie z. B. eine Anhängerkupplung Einfluss auf die Elastizität des Anstoßes und somit auf den k-Faktor. Mehr dazu unter [2].

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Out of position?

Häufig wird geltend gemacht, der Betroffene habe bei dem Stoß keine normale Sitzhaltung eingenommen, sondern sich nach vorne gebeugt. Eine von normaler Sitzposition abweichende Körperhaltung wird auch mit dem Begriff "out-of-position" ("oop"), im Gegensatz zu "in position" ("ip"), bezeichnet. In der Literatur findet man immer wieder die Annahme, dass eine solche oop-Haltung das Risiko erhöhe, bei einem Heckaufprall eine HWS-Verletzung zu erleiden. Ein Beleg dafür wurde, etwa durch Probandenversuche oder Realunfalluntersuchungen, jedoch nicht erbracht.

Bisher vorliegende Versuchsreihen weisen tendenziell eher in die Richtung, dass der Einfluss von oop gering oder nicht vorhanden ist. So heißt es bei [3]:

"Bezüglich des Vergleiches "oop" zu "ip" kristallisiert sich die Tendenz heraus, dass unterhalb einer Geschwindigkeitszunahme (gemeint ist immer das gestoßene Fahrzeug) von ca. 10 km/h zumindest dann kein höheres Verletzungsrisiko zu erwarten ist, wenn sich der Fahrer beispielsweise nach vorne in Richtung Radio beugt oder den Kopf verdreht hat, um per Schulterblick sich umzusehen."

In genau die gleiche Richtung weisen spezielle Untersuchungen zur vorgebeugten Haltung, etwa um eine Ampel im Auge zu halten [4]. Hier zeichnet sich durch die vorgebeugte Position der Probanden sogar eine tendenziell geringere Belastung ab.

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Literatur

[1] Meyer, Stefan; Thomann, S.; Becke, M.:
Der simulierte Heckanstoß
Eine wahrnehmbare Kollision ohne biomechanische Belastung
Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 05/2002, S. 129ff

[2] Kalthoff, Wolfram; Becke, M.:
Die Stoßzahl bei Auffahrkollisionen. Ein wesentlicher Parameter zur Bestimmung der HWS-Belastung.
Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 10/2000, S. 275ff

[3] Fürbeth, Volker; Großer, Werner; Müller, Georg:
HWS - Biomechanik 98
Sonderfälle zum Verletzungsrisiko
Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 2/1999, S. 32ff

[4] Meyer, Stefan; Becke, Manfred u. a.:
FIP - Forward Inclined Position
Insassenbelastung infolge vorgebeugter Sitzposition bei leichten Heckkollisionen.
Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 7/8/1999, S. 214ff

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